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8. MAI 2020
75 JAHRE KRIEGSENDE

50 JAHRE KRIEGSENDE
25 JAHRE DANACH


1995 bitte ich meinen Großvater, mir seine Erinnerungen über die letzten Kriegstage aufzuschreiben. Ich bin damals 18 — so wie er 1945. 

Foto: Christian Drexler

MEIN OPA

APRIL 1995 — Ich bin Schüler der 12. Klasse. Meine Schule steckt mitten in den Vorbereitungen für eine Gedenkfeier: 50 Jahre Kriegsende — eine große Sache, vor allem in einer Geschwister-Scholl-Schule. Man fragt uns, ob es nicht Familienangehörige gäbe, die Erinnerungen an das Kriegsende zur Feier beisteuern wollten und ich denke sofort an meinen Großvater.

Mein Opa war nie einer dieser Großväter, die nichts vom Krieg erzählten — im Gegenteil. Ich konnte ihn alles fragen. Und je größer mein geschichtlicher Hintergrund wurde, desto mehr schlossen seine persönlichen Erzählungen konkrete historische Ereignisse mit ein — Abkommen, Verträge, Militärstrategien. Allerdings waren seine Erzählungen nie verklärt — eher sachlich. Und viele seiner Anekdoten beschäftigten sich mit Absurdem oder stellten Fragen nach einem Sinn, wo für ihn keiner war.

Eigentlich kein Wunder: Mein Opa erlebte das Kriegsende als 18-Jähriger. Er war damit 1945 genau so alt wie ich 1995. Allerdings lebe ich am schönen Bodensee und irre nicht, wie er, durch den Spreewald zwischen Russen und Amerikanern.


Ich rufe ihn also an und frage, ob er sich noch an die Tage um das Kriegsende erinnern könne. Natürlich kann er das. Als ich ihm erkläre, was wir vorhaben und dass ich gerne seine Erinnerungen bei der Gedenkfeier vorlesen würde, ist er sofort dabei. Er sieht nur ein Problem: Er hat in seinem gesamten Leben bis dahin noch keinen längeren Text verfasst. Er weiß also nicht, ob er in der Lage ist, seine Gedanken verständlich zu Papier zu bringen. Mit den Worten "Ich schau mal, was ich machen kann" beendet er das Gespräch.

Ein paar Tage später erhalte ich Post von ihm. Eine Nachricht auf einem kleinen Zettel: "Schau mal, ob du alles lesen kannst. Es ist etwas wild geworden." Vor mir liegt ein selbstgebastelter Notizblock — gelochtes Schmierpapier mit einem Heftstreifen quer über den oberen Rand. Die Seiten lassen sich also nach oben umblättern. Das Schmierpapier meines Großvaters ist legendär. Es gehört für mich zu den zwei Dingen, die untrennbar mit meinen Großeltern verbunden sind. Das zweite ist der typische Geruch einer Reinigung.

Da liegt es also wieder vor mir, dieses selbst auf DIN A5 zurechtgeschnittene grüne Endlospapier. Auf der Rückseite: uralte Buchungsposten der I.H. Hahn GmbH & Co.KG (Reinigungsbetriebe 6719 Eisenberg), die Reinigungen meiner Großeltern. Aufgebaut nach dem Krieg, aus dem Nichts — das klassische Wirtschaftswunder. Auf den Rückseiten dieser Geschäftszahlen habe ich schon als Kind gemalt. Und jetzt hat mein Großvater seine Erinnerungen an das Kriegsende darauf verfasst — auf Belegen aus dem Jahr 1983.

Es sind zwölf eng beschriebene Seiten. Wie ich später von ihm erfahre, hat er den gesamten Text beinahe am Stück verfasst. Seine Erinnerungen beginnen am 20. April — an Hitlers Geburtstag. Er selbst befindet sich zu dieser Zeit im Spreewald, südlich von Berlin — zu seinem Glück zu spät, um noch in den Kampf um die Hauptstadt verwickelt zu werden. Im Februar 1945 war er gerade 18 Jahre alt geworden.

20. APRIL 1945

Da war er, der 20. April 1945 — „der Große“ hatte Geburtstag. Es war so, also würde man den Krieg immer noch gewinnen wollen — zumindest klang das im Rundfunk so. Als Funker hatte man die Möglichkeit im Geheimen auch andere Sender zu hören — und das wurde auch getan — bei der Funkwache in der Nacht, wenn man allein am Gerät saß. 

 „Soldatensender Calais“ — von den Alliierten betrieben, konnte man gut empfangen. Nur darüber reden, nein. In diesen Tagen habe ich mir das verkniffen. Denn es gab immer noch viele, die sich auf ihren Eid beriefen. Ob das tatsächlich so war?

SOLDATENSENDER CALAIS

Der Soldatensender Calais war ein britischer deutschsprachiger Propagandasender des Political Warfare Executive während des Zweiten Weltkrieges.

Es wurde vorgegeben, dass es sich um einen deutschen Wehrmachtssender handelt, der aber in Wirklichkeit von den Briten unterhalten wurde. Die Tarnung wurde als nahezu perfekt eingeschätzt, da alle Moderatoren fließend Deutsch sprachen. Für deutsche Wehrmachtsangehörige interessante Meldungen wurden gesendet, um sie den Schein der Echtheit zu wahren und sie bereiter für eingestreute Propaganda zu machen. 

Ich klammerte mich damals einfach an die Hoffnung an ein baldiges Kriegsende — an Heimkehr. Der Gedanke „nach Hause“ war in diesen Tagen allgegenwärtig. Auch die Kameraden redeten ab und zu davon — vor allem davon, was sie nach dem Krieg alles anfangen würden. Redete einer von Gefangenschaft, dann dachten alle: „So lange werden die uns schon nicht behalten“. Das galt allerdings nur für die Amerikaner. Ansonsten war da immer die Angst, bei den Russen zu landen.

Der Kopf sagt: Der Krieg ist verloren — wie willst du nach Hause kommen?

Westwärts.

1. MAI 1945

„Tag der deutschen Arbeit“ oder „Tag der Arbeit wie der Feiertag international hieß. Kein großes Feiern. Ich glaube, es war kein Feiertag mehr. In den Jahren 36/37/38 fand am 1. Mai in Grünstadt (Pfalz) immer die Vereidigung des Reichsarbeitsdienstes (RAD) statt. Die großen Töne sind nicht mehr so schrill. Die „Dorftyrannen“, Ortsgruppenleiter, der Bürgermeister und die alten Parteigenossen wurden immer schweigsamer — viele aus diesen Gruppen waren über Nacht spurlos verschwunden.

Wir liegen in einem Wald bei Freiberg in Sachsen. Seit Tagen keine Feindberührung, doch immerzu unterwegs. Noch haben wir unser Kfz — mal nach Süden, mal nach Norden. Wenn es mal wieder auf keiner Straße westwärts ging, rechnete man sich aus, wie viele Kilometer man wieder näher zur Heimat war. In jenen Tagen habe ich fast den gesamten südlichen Spreewald kennengelernt: Senftenberg, Hoyerswerda, Spremberg — längst weiß auch ich, dass wir uns mit der ganzen Einheit nur noch hin und her bewegen. Jeder weiß, dass es sich nur noch um Wochen handelt — vielleicht nur um Tage. Kommt es zu einer bedingungslosen Kapitulation? Und wie werden die Tage danach? Tausend Fragen. Keine Antworten. Jeder redet von zu Hause. Geschichten aus der Jugendzeit werden erzählt. Doch keiner weiß, wie es zu Hause eigentlich aussieht — denn in der Pfalz sind nun schon seit Wochen die Amerikaner.

2./3. MAI 1945

Wir sind wieder als Stabsfunker eingesetzt — mit viel Funkerei. Somit besteht wieder direkter Kontakt mit den taktischen Offizieren und wir können uns über die Lagepläne selbst ein Bild von der Front machen. Wir hatten es jetzt direkt vor Augen. Im Süden war der Obersalzberg, bei uns: die Mitte — Weimar, Jena, Magdeburg, Eisleben, Thüringen und Sachsen, im Norden: Schleswig-Holstein. Russische Front vor Senftenberg. Eine unserer Batterien muss zum Einsatz. Jeder aus unserer Gruppe konnte als VB — also als vorgeschobener Beobachter — abkommandiert werden. Dieses Mal traf es unsere beiden „Franze“. Der letzte Funkspruch: ein Bericht über Straßenkämpfe in Senftenberg. Nach diesem Einsatz haben wir die Beiden nie wieder gesehen. Franz 1 kam aus Emmerich im Rheinland, Franz 2 war aus dem Frankenland.

Unser direkter Vorgesetzter war ein Hauptwachtmeister der Artillerie aus Plauen im Vogtland und hieß Kaiser. „Unser Kaiser“, wie wir ihn nannten, war eigentlich ein ruhiger und sachlicher Mensch, aber in diesen Tagen war er immer öfter alkoholisiert. So hatten wir ein paarmal große Mühe ihn zum Schweigen zu bringen, denn in seinem Zustand faselte er von 12 verlorenen Jahren und von Verbrechern, die ihm diese Zeit seines Lebens geraubt hätten.

Wir kampieren im Wald. Ein Wegweiser an der letzten Kreuzung: 35 Kilometer bis Zwickau. Die Order: volle Tarnung, kein Feuer. Über unsere Funkgeräte sind wir in der Lage zu erfahren, dass sich 50 Kilometer östlich von uns Russen befinden, 40 Kilometer westlich Amerikaner. Funksprüche werden nicht mehr verschlüsselt. Klartext.

Unser Kaiser spricht russisch und hört mit. In der ca. 100 Kilometer entfernten Hauptstadt tobt zur gleichen Zeit der „Kampf um Berlin“. Unser Batteriechef, ein Oberleutnant, der erst ein paar Tage hier ist, hört die Amerikaner ab. Somit sind wir über beide Seiten im Bilde. 

Kurz darauf kreisen zwei Flugzeuge über uns — unser Kaiser tippt auf Russen. Wir bauen uns einen Unterschlupf aus Rundholz, das hier überall im Wald gestapelt liegt. Plötzlich, Motorengeräusch. Kaiser schreit: „Alle runter!“ Und dann kommen sie. Nur kurz, dafür sehr präzise. Wir haben Ausfälle. In den letzten Kriegswochen sind noch unglaublich Viele gefallen. Für was denn noch?

Am nächsten Morgen werde ich zum örtlichen Friedhof kommandiert. Man drückt mir eine schwarze Schleife in die Hand — zum Anlegen am Arm. Ich denke, ich soll auf dem Friedhof Löcher graben und frage nach einem Spaten, doch das war schon erledigt — in der Nacht — von gefangenen Russen. So stand ich plötzlich auf einer Beerdigung, ganz wie zu Hause. Zwei ältere Pfarrer beider Konfession, zehn Mann, abgesandt zur Beerdigung. Kein Salut am Grab. Gestern gefallen, heute beerdigt. Und morgen?

5. MAI 1945 

Heute werden die Soldbücher eingesammelt — zur Vernichtung. Ein paar Stunden später bekommen wir eine schriftliche Bestätigung:

„Soldbuch durch Feindeinwirkung verlustig. Inhaber dieser Bescheinigung ist Gefreiter der Einheit AR mot. 364 — Artillerieregiment motorisiert 364.“

Diese Truppe hat ausschließlich im Westen gekämpft — im Winter 44/45 in den Ardennen. Unsere Einheit wurde aber nur im Osten eingesetzt. 

Seit 2 Tagen sind drei unserer Offiziere unterwegs, um Kontakt mit den Amerikanern aufzunehmen. Ihre Absicht ist es, die gesamte Einheit geordnet in Gefangenschaft zu bringen. Am dritten Tag kommen unsere Parlamentäre zurück. Keiner sagt etwas. Ungewissheit. Die überwiegende Meinung: „Die haben nichts erreicht“. Rätsel raten.

8. MAI 1945

8 Uhr Morgenappell — Merzdorf bei Cottbus. Wir sind schon ein paar Tage hier. Doch heute Morgen ist die Dorfstraße voll mit Waffen-SS. Wir stehen zwei Stunden und wissen nicht warum. Denn ein Appell ist eigentlich in einer halben Stunde erledigt. Später heißt es, dass wir mit der SS-Truppe noch einmal in einen Einsatz hätten gehen sollen. Konnten unsere Leute die SSler überzeugen, dass das keinen Zweck mehr hat oder wollten die auch nicht mehr? Wer wen überzeugt hat — egal. Wir erhalten Marschbefehl. Es geht wieder westwärts. Wir fahren durch Zwickau und verbringen die Nacht außerhalb in einem Waldstück. Wir haben ein Reh geschossen. Große Aufregung. Schließlich durften wir ohne Befehl nicht schießen. Doch mit einem Stück Fleisch zwischen den Zähnen ließen sich auch unsere Offiziere wieder besänftigen. 

Wir hören von der Kapitulation. Der Krieg ist aus. Doch keiner glaubt es so richtig. Keine Freude. Kaum Erleichterung. 

Wachen werden eingeteilt. Mich trifft die Zeit zwischen Mitternacht und 2 Uhr morgens. Ich bin müde. Einfach müde. Habe den Wachantritt verschlafen. Man weckt mich. Mein erster Gedanke: „Wachvergehen“. Doch keiner sagt was. Ich beziehe meinen Posten. Mein Mit-Posten ist froh, dass ich komme. 

Ortsausgang – Panzersperre. Nach ein paar Minuten fallen mir die Augen wieder zu. Dem Anderen geht es nicht besser. Uns Beiden ist klar, dass es jederzeit Überraschungen geben kann — Kontrollen, Amerikaner, was weiß ich nicht was! Später — wir haben beide hockend geschlafen — werde ich angestubst. Ich schrecke hoch. Parole! Vor mir steht ein herrenloses Pferd. Erleichterung. Die Aufregung lässt nach, aber das Pferd werden wir nicht mehr los. Wir nehmen es mit ins Quartier. Am nächsten Morgen steht es noch immer bei uns im Hof.

9. MAI 1945

Im Dorf gibt es keine Menschen mehr. Zwei Männer vom Volkssturm schließen sich uns an. Der eine ist älter als mein Vater. Sie erzählen uns, dass sie aus der Gegend stammen, aber nicht mehr zurück können — da wären die Russen. Unsere Offiziere sind wieder unterwegs zu den Amerikanern und unser Kaiser klingt zuversichtlich. Er glaubt, dass es dieses Mal klappt. Denn seit gestern ist der Krieg aus und wir kämpfen nicht mehr.

12. MAI 1945

Es ist soweit — Appell. Es wird angetreten, wie immer. Wir bekommen Verhaltensregeln: Waffen, Munition — alles auf einen Haufen. Wir sind von Amerikanern umstellt. Sie fahren mit ihren Fahrzeugen um uns herum — kein Lärm, nur Beklommenheit und Motorengeräusche. Also so sehen Ami-Soldaten aus.

Unsere Offiziere kommen mit Amerikanern wieder — am Jeep die weiße Flagge. Jeder bekommt ein „Dinner“-Päckchen — fürs Erste recht gut. In den folgenden Tagen gibt es als Ration 500 Gramm Schweineschmalz für 25 Mann — der Würfel ist kaum Walnuss groß — 3 Dauerkekse und ein Liter gechlortes Wasser. Dafür musste man sich anstellen.

Bei einer solchen Gelegenheit gehe ich einfach aus der Reihe und laufe los. 100 Meter, 200 Meter — keiner kümmert sich um mich. Um das Camp stehen nur ein paar Wachen. Der Weg ist frei. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie auch nichts sehen wollten. Ich war 18 — für die Amerikaner ein Jugendlicher. 

Es wird dunkel, ich verstecke mich. Den Gedanken, mich wieder in Bewegung zu setzen, lasse ich fallen, denn bei Dunkelheit kommt es häufiger zu Schießereien.

13. – 17. MAI 1945

Ein kleines Dorf — von Militär oder Flüchtlingen keine Spur. Obwohl: Ich war ja jetzt ein Flüchtling. Völlige Stille! Plötzlich ein Zischen — zwischen den Zähnen: „Scht scht, hier her!“. Ein vielleicht 80-jähriger Mann winkt mich in eine Scheune. Er hat Milch, Brot und Wurst — ein gutes Gefühl stellt sich ein. Etwas im Bauch und es geht dir besser.

Der Alte klärt mich auf: Beschluss der Dorfbewohner „Es werden keine flüchtigen Gefangenen aufgenommen“ — aber er hält sich nicht daran. Ich erfahre, dass die Amerikaner schon seit ein paar Tagen nicht mehr hier waren. Doch genau in diesem Moment fährt draußen ein Jeep vorbei. „Wenn sie dich suchen würden, hätten sie dich hier sicher gefunden“, meint der Mann. Ich habe eine Leinentasche mit Stumpen, also Rauchwaren, davon gebe ich dem freundlichen Alten ein Päckchen. Er verschwindet. Als er wiederkommt, bringt er mir eine blaue Arbeitsjacke und eine Hacke. Er erklärt mir den Weg und so ziehe ich wie ein Landarbeiter mit meiner Hacke auf der Schulter über Land.

Es folgen vier Tage ohne Essen. Total matt und müde. „Westwärts!“ — Es war schon fast wie Manie — „Westwärts!“, denn das bedeutet nach Hause.

Ich gehe in ein Haus zum Betteln. Die Leute, ebenfalls Flüchtlinge, haben selbst nichts. Trotzdem bekomme ich zwei Pellkartoffeln. Für die Leute ein großes Opfer — für mich das Geschenk des Lebens.

18. MAI 1945

Ich bin wieder in einem Camp. Die Amerikaner haben mich und noch andere aus einer Scheune geholt. Wir alle sind abgerissen, ungepflegt und hungrig. Die Verpflegung in diesem Lager ist besser. Nachdem ich wochenlang unter freiem Himmel geschlafen habe, haben wir hier ein Dach über dem Kopf. Wir können duschen, werden entlaust — eine Wohltat. Hatte ich mich doch schon wochenlang mit Kleiderläusen herumplagen müssen. 

Jugendliche unter 20 Jahren bekommen täglich süßes Nudelgemüse mit Rosinen. Einmal gibt es sogar Pferdegulasch. Ich bin in Bad Sooden-Allendorf, Nordhessen.

Die Läuse war ich los, aber in den Baracken hatten sich Wanzen eingenistet — und die Plage begann von vorn. Ich durfte in der Küche arbeiten, Geschirr spülen, Saubermachen. Ein Schwarzer beaufsichtigte uns. Er hieß Joshua. Er war der gute Mensch. Hinter Kisten und Kästen hatte er uns ein kleines Versteck zum Ausruhen eingerichtet. Dort legte er uns öfter etwas zum Essen hin. All das tat er heimlich, denn es galt das Fraternisierungsverbot, das jegliche Annäherung untersagte.

Ein paar Wochen später werden wir verhört — egal, ob Parteigenosse, SS oder Sondereinheit. Aufgrund meines Alters gibt es keine Probleme. Helmut Kohl nennt das später „Die Gnade der späten Geburt“. 

Fraternisierungsverbot 1945

Distanz zur deutschen Bevölkerung wahren, dies ist zunächst Grundlage der alliierten Besatzungspolitik. So verbietet etwa das amerikanische Militär den Soldaten eine "Verbrüderung" (Fraternisierung). 

Das Fraternisierungsverbot wird bereits am 1.10.1945 wieder aufgehoben. Besatzungssoldaten erobern die Herzen deutscher Kinder, indem sie Schokolade, Kaugummi oder Bonbons verschenken. In den westlichen Besatzungszonen entwickeln sich bald Liebesbeziehungen zwischen alliierten Soldaten und deutschen Frauen.

Quelle: Haus der Geschichte

29. JUNI 1945

Ich werde in Spangenberg, einem kleinen Ort in Hessen, entlassen.

30. JUNI 1945

Ich komme am Abend des 30. Juni 1945 um 19 Uhr zu Hause am Bahnhof in Grünstadt in der Pfalz an. Hier stehen Hunderte und warten — auf Angehörige, die noch kommen müssen — sollten. Viel Freude — viel Enttäuschung — viele Tränen. 

Ich aber werde von meiner Tante Sophie „richtig“ abgeholt. 

Zu Hause: große Aufregung. Ich sitze wieder am Tisch auf meinem Platz — Bratkartoffeln. 

Waschen, Baden. Die Kleider kommen auf die Leine, nicht ins Haus — Ungeziefer!

Am 30. Juni 1945 beginnt das zivile Leben — armselig, aber ohne Partei und Uniform.

8. MAI 1995

Ich stehe in der Aula meiner Schule und lese vor knapp 1.000 Zuhörern aus den Erinnerungen meines Großvaters. Ich zittere am ganzen Körper — allerdings nicht vor Aufregung, sondern weil ich meinem Opa in diesem Moment so nah stehe wie noch nie. Während ich lese, wird mir zum ersten Mal klar, was mein Großvater genau jetzt vor 50 Jahren getan hat, wo er war — was er dachte. Und was mich wirklich fertig macht: Ich bin jetzt so alt wie er damals.

8. MAI 2020

15.15 Uhr — Ich rufe meinen Großvater an. Er lebt in einem Seniorenheim, nur wenige hundert Meter entfernt von seinem damaligen Wohnhaus, dem Haus mit der großen Waschküche und dem Anbau für die Heißmangel — dem Elternhaus meiner Mutter.

Vor zwei Tagen habe ich ihm diesen Artikel geschickt — per Post. Er hat keine Lust mit mir über Corona oder seinen Gesundheitszustand zu sprechen. Er steigt direkt in die Erzählung ein. Beim Lesen seien ihm so viele Zusammenhänge wieder eingefallen. Er füllt Lücken — über die ersten Wochen in amerikanischer Gefangenschaft in Sachsen. Er berichtet, wie alle Gefangenen auf einem Feld schlafen, aber es in diesen ersten drei Wochen kein einziges Mal regnet. Danach geht es per Transport nach Nordhessen – 100 Kilometer am Tag. Am Pfingstsamstag 1945 beziehen sie dort eine Baracke in einem alten Lager. Kaum haben sie nach Wochen erstmals ein Dach über dem Kopf, bricht ein Gewitter los.

Er erzählt, wie er es in nur zwei Tagen aus Nordhessen bis nach Hause schafft und über seine Tante Sophie, die ihn am Bahnhof abholt.

„Und das alles ist jetzt schon 75 Jahre her“, sagt er plötzlich – „Und das erste Mal, dass wir das aufgeschrieben haben auch schon 25“, antworte ich. „Und weißt du, was das alles bedeutet?", fragt er. „Was?" „Das bedeutet, dass ich jetzt schon über 90 bin — DAS hätte mir mal einer vor 75 Jahren erzählen sollen.“